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AdJb Bestand A 228 > Reusch, Fritz

Beschreibung

Identifikation (Gliederung)

Titel

Reusch, Fritz

Aufsatz

Fritz Reusch, geb. 20. 11. 1896 in Bingen, gest. 8. 2. 1970 in Heidelberg, Musikpädagoge

Fritz Reusch wuchs in wohlhabenden Verhältnissen auf. Geboren wurde er am 20. 11. 1896 in Bingen, wo sein Vater ein Weingut besaß. Schon bald jedoch zog die Familie nach Biebrich-Schierstein, wo der Vater – so Fritz Reusch in Vorarbeiten zu einer Autobiografie (s. A 228 Nr. 1235) – „Mitinhaber einer Teerproduktefabrik“ wurde. 1906 folgte ein weiterer Umzug nach Wiesbaden, wo man in einer „prunkvollen Villa“ lebte und Fritz Reusch die höhere Schule besuchte. Der tierliebe Vater habe ihm die „Liebe zur Kreatur“ schon zu Kinderzeiten vermittelt, beschreibt Reusch, und auch seine „Freude an der Natur“, geweckt durch Fahrradtouren und durch Wochenenden in einer „einfachen dörflichen Jagdwohnung“, sah Fritz Reusch in seiner Kindheit begründet. Seine Freude an der Natur sei es auch gewesen, die ihn „dann bewog – ganz von mir aus und ohne daß mein Vater sich groß darum gekümmert hätte – zunächst in einen bürgerlichen Wanderklub und bald darauf in eine Schülergruppe des Alt-Wandervogels einzutreten. Das Erlebnis des Wanderns, des Zeltens und Abkochens, vor allem des Singens am nächtlichen Feuer, mit einem Wort: der Gemeinschaft, hat meinen späteren Lebens- und Berufsweg innerhalb der Singbewegung zweifellos entscheidend vorgeformt“ (ebd.). Ein weiterer Umzug führte die Familie nach Passau, wo der Vater „einen großen Gutshof gekauft hatte“. „Ich selbst, vom Militärdienst freigestellt, lernte nun, nachdem mein Lebenswunsch, Musik zu studieren nicht erfüllt wurde, und ich stattdessen in einer der väterlichen Fabriken meine Kaufmannslehre absolviert hatte, den langen und schweren Werktag des Landwirts kennen […] War auch alles ungewohnt, so begeisterte mich doch die freie, schöne Natur […] Aber das Schönste war, im strengen Winter mit dem Pferdeschlitten den bayerischen Wald zu durchkreuzen. Noch heute höre ich das leise Bimmeln der Glöckchen und das Knirschen des Schnees, vor allem auf meinen vielen nächtlichen Fahrten. Hier erlebte ich, damals noch unbewußt aber doch in einem Gefühl weltaufgeschlossener Frömmigkeit dem Kosmos gegenüber, den Zauber des Sternenhimmels und damit – wer wollte es bestreiten? – die Geburt meiner 'romantischen Seele'!“

Nachdem der Vater 1918 an einer Grippe gestorben war, musste Fritz Reusch wegen einer Lungenerkrankung in einem Schweizer Sanatorium behandelt werden. Die intensive Freundschaft zu einem Mitpatienten, der Literaturgeschichte studierte hatte und am Theater arbeitete, brachte eine entscheidende Wendung: „Eine neue Welt tat sich mir auf: die Welt des Geistes, der Künste, der Wissenschaft, der Musik, des Universitätsstudiums.“
1920 nahm Reusch in Heidelberg ein „Studium als Musikwissenschaftler u. praktischer Musiker“ auf – seine autobiografischen Notizen enden an dieser Stelle. Fritz Reusch studierte bei Theodor Kroyer, später in Berlin bei Hermann Abert und Max Friedlaender. 1924 wurde er in Heidelberg promoviert (Fred Prieberg benennt als Dissertationsthema die „Regole del contraponto“ des Barockkomponisten Valerio Bona, in: „Handbuch Deutsche Musiker 1933-1945“, Version 11/2004 (CD-Rom), S. 5713).

Nach seiner Begegnung mit Fritz Jöde in Berlin zählte Reusch ab Mitte der 20er Jahre zu den führenden Köpfen der Jugendmusikbewegung und wurde zu einem der engsten Mitstreiter Jödes. Er war Mitbegründer der Volksmusikschule Charlottenburg sowie Mitherausgeber und Schriftleiter der Zeitschrift „Musikantengilde“. Jöde übertrug ihm auch die Leitung des Anfang 1926 gegründeten Arbeitsamtes der Musikantengilde in Berlin, das als Zentralstelle die Arbeit der regionalen Musikantengilden und ihrer Singkreise vernetzen sollte, indem überregionale Zusammenarbeit, Schulungen und Tagungen organisiert wurden. Ein Kuriosum ist, dass Fritz Reusch innerhalb der Musikantengilde „Peter“ genannt wurde – Jöde selbst, Höckner, Pfannenstiel und andere redeten ihn regelmäßig mit diesem Namen an. Bereits ein Schreiben von Hilmar Höckner von 1926 wird eröffnet: "Lieber Peter! Ich finde diese Anrede viel schöner als die früher angewandte und bitte Dich, mir zu verzeihen dass ich sie ohne erst anzufragen gebrauche. Also: Lieber Peter!" (in A 228 Nr. 488, Nachlass Höckner). Denkbar ist, dass sich der Name Peter für Fritz Reusch im engeren Kreis der Musikantengilde auch etablierte, um die Namensgleichheit zu Fritz Jöde zu umgehen und Missverständnisse zu vermeiden.
Zwei Jahre später, im April 1928, wurde Fritz Reusch Leiter der neu gegründeten „Evangelischen Schule für kirchliche Volksmusik“ in Spandau (etliche Dokumente zu dieser Institution finden sich im Nachlass Walter Blankenburg, s. bes. A 228 Nr. 805). In einem Brief an Hilmar Höckner vom 20. 6. 1928 berichtete Reusch über seine Arbeit dort und zog ein frühes Resümee: „ich muss schon sagen, dass mir die Arbeit hier draußen natürlich viel mehr Freude macht als die Leitung des Arbeitsamtes. Einfach deswegen, weil ich hier mehr zum Musizieren und Unterrichten komme, und ich nun doch einmal ein passionierter Pädagoge bin" (Nachlass Hilmar Höckner, A 228 Nr. 489).

Ab 1930 war Fritz Reusch als Professor für Musikerziehung an diversen Lehrerbildungsanstalten tätig: in Frankfurt/Oder, Elbing, Hirschberg und Koblenz (bis 1944). 1937 trat er der NSDAP bei (s. Prieberg, a. a. O.). Reusch stellte seine Tätigkeit als Musikpädagoge dezidiert in den Dienst der nationalsozialistischen Ideologie, wovon die Texte dieser Zeit beredtes Zeugnis ablegen. Als beliebiges Beispiel möge der als Typoskript überlieferte Artikel „Die neue Schau“ dienen, aus dem hier – ohne weitere inhaltliche Erläuterung – zwei Textstellen zitiert seien: „Solch neue Schau und neuer Glaube aber schafft den Willen zur Tat. Freiwillige Hingabe und selbstloser Einsatz finden ihre Krönung im Dienst an der Gemeinschaft und ihre höchste Weihe im Opfergang für Volk und Vaterland. Durch das Weltanschauliche und Religiöse erhoben, wird das Handeln zur Handlung, das persönliche Tun zur schöpferischen Tat am ewigen Antlitz des deutschen Menschen und der deutschen Nation […] Und je blutvoller dieses Formbild im Rassenseelischen gründet, desto arteigener wird es sein, desto tiefer reichen seine Wurzeln in das Elementar-Kosmische, aus dessen Ewigkeiten die urgesetzliche Formsprache der deutschen Seele klingt“ (s. A 228 Nr. 1210, hier auch der Vortrag "Die Entwicklung einer natürlichen musikalischen Gestaltung als Folge der durch die Idee des Nationalsozialismus gewonnene[n] Bindung an die Lebensgesetze" für die Reichsführerinnenschule der NS-Frauenschaft Coburg; entsprechende Belege liefert auch Fred Prieberg).

Nach dem Krieg war Fritz Reusch zunächst als Privatmusiklehrer in Heidelberg tätig. Dass seine Position während der NS-Zeit ein öffentliches Wirken in der Nachkriegszeit zunächst unmöglich machte, ist zwar zu vermuten, entsprechende Hinweise oder gar Dokumente zu einem Entnazifizierungsverfahren sind in den Nachlassmaterialien jedoch nicht überliefert. Vielmehr stellte Reusch in einem Brief an Felix Messerschmid vom 25. 10. 1948 seinen Zustand als selbstgewählt dar: „Ich selbst habe bisher auch allen pädagogischen Anforderungen, wieder in die Lehrerbildung zu gehen, widerstanden, um eine grosse Arbeit über Klangordnungen und -gesetze weiterzuverfolgen und abschließen zu können. Es handelt sich da um meine sog. ‚Tonraumordnung‘, ein theoretisches und praktisches Werk, vielleicht könnte man letzteres eine ‚Improvisationslehre‘ nennen, dessen erster Teil bis ins Philosophische hineingeht. Ferner habe ich 1945 in Zusammenarbeit mit einem Astronomen [Heinz Haber] die alte ‚Sphärenmusik‘ wiederentdeckt und auch Zusammenhänge zwischen Kristallformenbildung und musikalischen Schwingungsverhältnissen (aufbauend auf den Arbeiten des Kristallographen Viktor Goldschmidt und des Dir vielleicht bekannten Hans Kayser ‚der hörende Mensch‘) gefunden, die für die Tonalitätsentwicklung der Musik von überraschender Bedeutung sind“ (A 228 Nr. 1227, zur Sphärenharmonie siehe bes. die Dokumente in A 228 Nr. 1225).

Von 1949 bis 1955 arbeitete Fritz Reusch schließlich als Dozent für Stimmbildung an der Musikhochschule Heidelberg. Sein ausgeprägtes Interesse an Fragen der Stimmbildung und Sprecherziehung schlug sich in zahlreichen Dokumenten und Projekten nieder, etwa in der „Sprechfibel für Kinder und Jugendliche“, die 1963 bei Schott erschien, aber schon etliche Jahre früher entstanden war (vgl. auch Reuschs Schreiben an Felix Messerschmid vom 4. 1. 1963: „Als vorläufiger 'Abschluß' meiner musikpädagogischen Tätigkeit erscheint in diesem Monat noch im Schott-Verlag meine vor vier Jahren geschriebene ‚Sprechfibel für Kinder und Jugendliche‘", s. A 228 Nr. 1227). Die Sprechfibel lehnt sich nach eigenem Bekunden methodisch an die berühmte Lautlehre von Julius Hey an. Mit Hey ist der Name Fritz Reuschs fest verbunden, weil er 1956 das bis heute von Schauspielern und Sprecherziehern genutzte Standardwerk „Die Kunst des Sprechens“ neu herausgab (üblicherweise als „Der kleine Hey“ bezeichnet, in Abgrenzung von Heys großem Stimmbildungslehrbuch für Sänger). Beachtet wurde seinerzeit auch Reuschs "Elementares Musikschaffen", das 1952 und 1954 in zwei Bänden in der Reihe "Bausteine für Musikerziehung und Musikpflege" von Fritz Jöde erschien (s. bes. A 228 Nr. 1237).

Daneben vertiefte Reusch seit der Nachkriegszeit seine Beschäftigung mit Religion, Mystik und Meditation. 1947 zog ihn die Lektüre des chinesischen Weisheitsbuches „I Ging“ so in den Bann, dass er für seine engeren Freunde eine längere Abhandlung "Mein Weg zum Buch I-Ging" verfasste (A 228 Nr. 1229). 1948 kehrte er zum katholischen Glauben zurück und plante, seine „Kosmologie der Musik“ theologisch zu fundieren (im Brief an Messerschmid, s. A 228 Nr. 1227). Im Oktober 1961 erklärte er Felix Messerschmid seinen Eintritt in den Orden der Benediktiner und seine Abwendung von seiner früheren musikpädagogischen Tätigkeit: „meine jahrelange intensive Begegnung mit dem Leben und dem Werk der hl. Hildegard von Bingen führte mich in innerer Konsequenz zu einer engen Verbindung mit den Benediktinern und schließlich zum eigenen ‚Ernstmachen‘: vor fast 2 Jahren bin ich als ‚Oblate‘ in der Abtei Neuburg eingetreten, im vorigen Herbst eingekleidet worden und stehe nun in absehbarer Zeit vor meinem Profeß./ Ich kann hier nur den äußeren, nicht den inneren Weg erwähnen. Jedenfalls hat sich mein Leben seitdem völlig umgestaltet: die Musikerziehung (Verlag, Vorträge, Aufsätze, Stunden) ist ganz und gar in den Hintergrund getreten; Kontakte und Reisen habe ich weithin eingeschränkt, zumal ich ja mit einem ganz anderen Menschenkreis in Verbindung stehe. […]“; die Profess legte Reusch im Dezember 1961 ab.
Dass dieser Abwendung von seiner bisherigen Tätigkeit auch eine resignative Komponente anhaftete, verrät ein Brief an Ekkehart Pfannenstiel vom 24. 3. 1959, in dem Reusch angibt, dass er „aufgrund von so manchen Enttäuschungen und Einsichten ‚hinter den Kulissen‘ des heutigen Kultur- und Erziehungsbetriebes, von Vielem, was ich getan habe (Aufsätze, Vorträge, Tagungsmitwirkung, Veröffentlichungen usw.) Abschied genommen habe“ (Personenmappe Reusch, A 228 Nr. 8386). Reusch kappte die Verbindungen zur Vergangenheit in der späten Lebensphase sehr weitgehend, bekundete gelegentlich zwar in Briefen noch freundschaftliche Verbundenheit, war aber zu Begegnungen oder gar weiterer Zusammenarbeit kaum noch zu bewegen. Fast schroff wehrte er sich etwa gegen die Bitten von Fritz Jöde und Heinrich Schumann in den 1960er-Jahren, für das neu gegründete Archiv der Jugendmusikbewegung schriftlich oder in einer Tonaufnahme Zeugnis abzulegen (s. Personenmappe, A 228 Nr. 8387). Ilse Gerhardt beschrieb die Situation in einem Schreiben an Ekkehart Pfannenstiel vom 7. 6. 1969 pointiert: „Er ist ganz in seine religiöse Welt versunken und will von Vergangenheit nichts wissen“ (ebd.).

Fritz Reusch starb am 8. Februar 1970 in Heidelberg.

(Ute Brüdermann)