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AdJb Bestand N 44

Beschreibung

Identifikation (kurz)

Titel

Gardiner, Rolf (1902-1971)

Siehe

Korrespondierende Archivalien

N 62 Nachlass Georg Götsch

Ein weiterer Teil des Nachlasses befindet sich in der Cambridge University Library, Department of Manuscripts and University Archives, West Road, Cambridge, CB3 9DR, United Kingdom; Telefon: + 44 - 1223 - 333000; Fax: + 44 - 1223 - 333160; Internet: http://www.lib.cam.ac.uk/

Bestandsdaten

Bestandsgeschichte

Der Nachlass Rolf Gardiner im Archiv der deutschen Jugendbewegung setzt sich aus zwei Teilen zusammen: Dem eigentlichen Teilachlass Rolf Gardiner und 15 Aktenordnern aus dem Bestand Georg Götsch (1895-1956), der bis 1991 von Erich Bitterhof verwahrt und betreut wurde. 1974 wurde der Nachlass durch Kopien von Archivalien aus dem Nachlass Rolf Gardiner in der Cambridge University Library angereichert.

Geschichte des Bestandsbildners

* 5.11.1902 in London, + 26.11.1971 in London.
Dichter, Sänger, Landwirt. Mitgliedschaft bei den Pfadfindern (1911).
Henry Rolf Gardiner wird am 5. November 1902 als Sohn des englischen Ägyptologen Sir Alan Gardiner (1879-1963) und seiner Frau Hedwig von Rosen, geborene Pipping, († 1964) geboren. Gardiners Mutter hat skandinavisch, österreichisch-ungarische und jüdische Wurzeln.
Nach dem Besuch der Internatsvorschule West Downs, Winchester, 1913-1916, der Rugby School 1916-1918 und der Bedales School in Derbyshire 1919-1920 studiert Gardiner in den Jahren von 1921 bis 1924 moderne und mittelalterliche Sprachen im St. John's College in Cambridge. 1920 gründen Studenten in Cambridge, die dem Social Credit Study Circle angehören, das Magazin 'Cocoon', das später umbenannt wird in 'Youth'. Gardiner, der zu diesen Studenten gehört, wird 1923 Herausgeber der Zeitschrift.
Rolf Gardiner ist ein begabter Tänzer und Sänger; er glaubt an die heilenden Kräfte von Musik. 1924 gründet er zusammen mit Jane Schofield (1907-1984) die 'Morris Men', auch 'Morris Ring' genannt, eine Tanzgruppe, die ausschließlich aus Männern besteht. Der Morris-Tanz, abgeleitet von 'Moriske', 'Mohr' oder 'Maurisch' ist ein mittelalterlicher Tanz, der ursprünglich aus Nordafrika stammt. Kennzeichen sind charakteristische Sprünge und akrobatische Körperverdrehungen. Unter Umständen sind seine Ursprünge im Schwerttanz zu suchen. Zu dieser Gruppe zählen unterschiedliche Volkstänze, wie Schützentänze, Scheinschlachttänze und Duotänze oder auch traditionelle schottische Messertänze, mittelalterliche Zunfttänze und Kettenschwerttänze.
Gardiner fasst den Morris Tanz als mystisches Ritual auf, in dem die Seele des Menschen mit dem Geist der Erde vereint wird. Diese Interpretation geht auf die Vorstellungen des englischen Schriftstellers D.H. Lawrence (1885-1930) zurück, mit dem Gardiner seit 1924 in engem Kontakt steht. Da im Morris-Ring nur Männer Mitglied werden können, setzt dies die Gruppe dem Vorwurf des Machismus und der Frauenfeindlichkeit aus. Gardiner, der Lawrences antifeministische Einstellung adaptiert, hält Tanzen für eine ausschließliche Männer-Angelegenheit; tanzende Frauen hingegen seien Blasphemie. Mit dieser Einstellung gerät Gardiner in scharfen Gegensatz zur 'English Folk Dance and Song Society', einer Institution, die 1932 aus der 21 Jahre zuvor von Cecil Sharp (1859-1924) gegründeten 'English Festival Dance Society' (EFDS) und der 1898 ins Leben gerufenen 'Folk-Song Society' hervorgegangen ist. Zunächst steht auch die englische Sozialarbeiterin, Frauenrechtlerin und Sammlerin von englischen Volkstänzen, Mary Neal (1860-1944), eigentlich Clara Sophia Neal, Gardiner kritisch gegenüber. Sie lehrt Mädchen Morris-Tänze im 1895 zusammen mit der Suffragette Emmeline Pethick-Lawrence (1867-1954) gegründeten 'Espérance Girl's Club' in London. Schließlich lässt sie sich aber doch von Gardiner überzeugen und erkennt Morris-Tänze als rein männliches Ritual an. Der Morris-Ring übt starken Einfluss auf die britische Volkstanz-Tradition aus, insbesondere auf den Masken- und Schwerttanz. Gardiner liegt die Erhaltung volkstümlicher Traditionen am Herzen. Er spricht sich klar gegen Kosmopolitismus, Intellektuelle und die moderne Kultur des Individualismus aus.
Diese Einstellung stammt aus seiner Zeit als Pfadfinder, in der er unter anderem die Schweiz, Österreich, Norddeutschland und Schlesien bereist. Er hat dauerhaft Kontakt zur deutschen Jugendbewegung, insbesondere zum Wandervogel. Ab Mitte der 1920er Jahre besucht Gardiner regelmäßig Deutschland und tauscht sich unter anderem aus mit dem preußischen Erziehungsminister und Kulturpolitiker Carl Heinrich Becker (1876-1933), Ernst Buske (1894-1930), einem deutschen Juristen und Bundesführer des Wandervogels, und dem Musikpädagogen Georg Götsch (1895-1956), einem der führenden Köpfe der 1922 gegründeten Musikantengilde. Dieser leitete von 1927 bis 1942 das Musikheim in Frankfurt / Oder, eine prominente Fortbildungsstätte für Musiklehrer, wo Gardiner regelmäßig Chortreffen abhält.
Gardiner beobachtet aber auch die Entwicklung der Pfadfinderbewegung im Vereinigten Königreich. Er unterhält unter anderem Kontakte zu George Trevelyan (1906-1996), einem bekannten Vertreter des New Age, der sich ebenfalls der Jugendbewegung verschrieben hat. Außerdem steht Gardiner dem Gilden-Sozialismus nahe, einer politischen Strömung, welche die Kontrolle der Industrie durch Gewerkschaften fordert. 1920 spaltet sich unter John Hargrave (1894-1982) die Organisation 'The Kindred of Kibbo Kift' von den Boy Scouts ab. Von 1924 bis 1925 ist Gardiner Mitglied, tritt jedoch wieder aus, da sich die Bewegung für sein Empfinden zu sehr auf Theorien und zu wenig auf die Praxis konzentriert. Die internationale und auf elitäre Führung ausgerichtete Organisation tritt für Pazifismus, Demokratie, Friede und Gerechtigkeit ein. Erst in den 1930er Jahren erfährt sie eine Wandlung in eine stark politische Richtung.
Gardiner bewundert die Ideale der deutschen Jugendbewegung, den Enthusiasmus, die Energie und den Stolz ihrer Mitglieder. Er ist angetan von ihrer selbstsicheren Masuklinität und Disziplin, den gemeinsamen Aktivitäten wie Wandern, Singen, Tanzen und vor allen Dingen von ihrer Arbeitsmoral. Im Gegensatz dazu hält er seine Landsleute für weich, müde und überkritisch.
Rolf Gardiner gilt als Begründer des biologischen Ackerbaus und Vater des britischen Umweltschutzes. 1927 rekultiviert er die Farm seines Onkels Balfour Gardiner (1877-1950), des englischen Komponisten. 1932 heiratet er Marabel (Mariabella) Hodgkin (geb. 1907 oder 1908). Aus dieser Ehe gehen drei Kinder hervor: Christopher, Rosalind und John Eliot. Ein Jahr später kauft er mit Hilfe seines Onkels die Gore-Farm bei Shaftesbury, Dorset, und die Mühle Fontmell, wo er seinen Wohnsitz Springhead (Fontmell Magna) einrichtet. Beeinflusst von der Lebensform des Wandervogels und nach Vorbild der Arbeitslager des Kulturphilosophen, Historikers, Soziologen und Juristen Eugen Rosenstock-Huessy (1888-1973) gründet Gardiner 1933 den 'Springhead-Ring'. In diesem Rahmen unterhält er Arbeitslager, in denen jungen Menschen landwirtschaftliche Arbeit in Verbindung mit Musik und Tanz, Freizeit, Kameradschaft und Zusammenarbeit nach Vorbild des Musikheims in Frankfurt / Oder vermittelt werden. Nach Gardiners Auffassung sind sozialer Stand, Titel und Vermögen der Mitglieder unwichtig. Für ihn zählen neue Ideale und Werte. So beschreibt er sich selbst als 'a plain, practical working farmer, forester … an ameliorator of the land' (einfacher, praktisch arbeitender Landwirt, Förster ... Verbesserer des Bodens). Der Springhead-Ring wird oftmals kritisiert, eine 'Ersatz-Aristokratie' zu schaffen. Der mit Gardiner eng befreundete deutsche Wirtschaftswissenschaftler und sozialdemokratische Kulturpolitiker Adolf Reichwein (1898-1944), der als Mitglied des Kreisauer Kreises im Zuge des Hitler-Attentats vom 20. Juli 1944 exekutiert wird, hält 1938 in Springhead zahlreiche Vorträge.
Gardiner unterstützt des weiteren Landwirtschaftscamps für Arbeitslose. Das bekannteste ist der Order of Woodcraft Chivalry in Godshill, Hampshire, der sich 1932 etabliert. Zu dieser Zeit hält Gardiner Vorträge für arbeitslose Bergleute in East Cleveland.
Gardiner tauscht sich mit Walter Darré (1895-1953), dem deutschen Minister für Ernährung und Landwirtschaft, dessen 'Blut und Boden'-Ideologie er bewundert, noch vor dem Zweiten Weltkrieg aus. Auch nach 1945 stehen die beiden in engem Kontakt. Für Gardiner ist Darré der geistige Vater des britischen Umweltschutzes. Jorian Jenks (1899-1963), der landwirtschaftlicher Berater der Britischen Faschistischen Union (BUF), hat ebenfalls großen Einfluss auf Gardiner. Gardiner engagiert sich auch politisch. 1937 bis 1946 ist er Mitglied des Dorset County Councils.
Rolf Gardiner setzt sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg stark für ökologische Landwirtschaft und Umweltschutz ein; so ist er 1946 Gründungsmitglied der Soil Association. Ab 1947 lebt er zeitweise in Malawi, wo er die europäische Landschaftspflege verbreitet.
Auf einem Hügel in Wessex pflanzt Gardiner einen Ring von immergrünen Bäumen verschiedener nordeuropäischer Arten um die Grabstätte seines Onkels. Dieser 'Balfours Circle' ist nach Gardiner Symbol für die Gemeinschaft, die aus der europäischen Vielfalt erwächst. 1957 ist Gardiner im Vorstand des Londoner Großhandelstextilhauses Bradbury Greatorex. Seine Beziehungen zu Deutschland hält er aufrecht, unter anderem durch die Mitgliedschaft im Freideutschen Konvent. 1963 gründet er zusammen mit Alwin Seifert (1890-1972), Tassilo Tröscher (1902-2003), Gert Kragh (1911-1984) und Heinz Haushofer (1906-1988) auf Burg Fürsteneck den Europäischen Arbeitskreis für Landschaftspflege. Gardiner bleibt auch weiterhin politisch aktiv. Er organisiert Busfahrten entlang der innerdeutschen Grenze und singt in Kirchen als Protest gegen die Grenzziehung. Gardiner wird vielfach für sein umfassendes Engagement geehrt. 1967 zeichnet Elisabeth II. ihn mit dem Titel 'High Sheriff of Dorset' aus; 1971 wird ihm die Peter-Joseph-Lenné-Medaille in Gold verliehen. Kurz nach seinem Tod am 26. November 1971 gründet Gardiners Witwe den Springhead Trust. In Springhead befindet sich heute ein Lernzentrum für ökologische, musische und ländliche Kurse. Sir John Eliot Gardiner, der weltbekannte Dirigent, lebt heute noch in Springhead.
Im Vereinigten Königreich ist Rolf Gardiner eine umstrittene Persönlichkeit. Als junger Mann war er dem Faschismus nicht abgeneigt, wendete sich allerdings ab, als Adolf Hitler 1933 in Deutschland die Macht übernahm. Gardiner wurde zeitlebens wegen seiner Kontakte nach Deutschland im allgemeinen, zur Jugendbewegung und zu Walter Darré im besonderen heftig kritisiert. Auch als er deutsche Kriegsgefangene in Springhead beschäftigte, sorgte er für Aufsehen. Dies und seine Begeisterung für Volkstanz und Volkskunst setzte ihn dem Vorwurf aus, Sympathisant des Faschismus und des Nationalsozialismus zu sein. Er ist wohl eher als typischer Vertreter seiner Zeit einzuordnen, der von der Jugendbewegung, patriotischen und mystischen Strömungen der Zeit geprägt wurde. Gardiner nimmt in jedem Fall eine Schlüsselrolle in der Wiederbelebung der englischen Volkstanztradition ein. Unumstritten ist er auch als 'Vater des ökologischen Landbaus' anerkannt. Seine Gedanken und Vorstellungen hat er in zahlreichen Artikeln, unter anderem in den Publikationen 'Wessex. Letters from Springhead', 'North Sea and Baltic', 'Springhead Ring Newssheet' oder in 'Youth' zum Ausdruck gebracht.

Literatur

Archiv der deutschen Jugendmusikbewegung (Hrsg.): Die deutsche Jugendmusikbewegung in Dokumenten ihrer Zeit von den Anfängen bis 1933, Wolfenbüttel 1980.

Andrew Best: Water springing from the Ground. An Anthology of the Writings of Rolf Gardiner, 1972.

G. Boyes: The Imagined Village. Culture, Identity and the English Revival, 1989.

Malcolm Chase: Rolf Gardiner. An inter-war Cross Cultural Case Study, in: B. Hake / M. Chase (ed.): Adult Education between Cultures, 1992.

Malcolm Chase: Heartbreake Hill. Environment, Unemployment and 'Back to the Land' in inter-war Cleveland. Oral History 28 (2000), S. 33-42.

Philip Conford: The Origins of the Organic Movement, 2001.

J. Finlay: John Hargrave, the Green Shirts and Social Credit. Journal of Contemporary History 5 (1970).

R. Griffiths: Fellow Travellers of the Right. British Enthusiasts for Nazi-Germany 1933-1945, 1983.

D. Matless: Landscape and Englishness, 1998.

Michael John Mertens: Early twentieth century youth movements, nature and community in Britain and Germany, Birmingham, 2000.

R. J. Moore-Coyler: A Northern Federation? Henry Rolf Gardiner and British and European Youth. Paedagogica Historica 39:3, 1 (2003), S. 306-324.

R. J. Moore-Coyler: Back to Basics. Rolf Gardiner, H. J. Massingham and the Kinship in Husbandry. Rural History 12 (2001), S. 85-108.

R. J. Moore-Coyler: Rolf Gardiner, English patriot and the Council for the Church and Countryside. Agricultural History Review 49, 2 (2001), S. 187-209.

J. Springhall: Youth, Empire and Society, 1977.

P. Wilksinson: English Youth Movements 1908-1930. Journal of Contemporary History 4 (1969), S. 12-24.

P. Wright: The Village that died for England, 1995.

"Ludwigsteiner Blätter", Nr. 93/1971 (Nachruf)

Findmittel

Online-Datenbank (ArcInSys)

Weitere Angaben (Bestand)

Umfang

8 Archivkartons

Bearbeiter

Dr. Dorothee Platz