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AdJb Bestand N 247

Beschreibung

Identifikation (kurz)

Titel

Stumme, Wolfgang (1910-1994)

Bestandsdaten

Aufsatz

Einerseits zählte der Musikpädagoge Wolfgang Stumme als Leiter der Hauptabteilung Musik im Kulturamt der Reichsjugendführung zu den aktiven, führenden Persönlichkeiten im Nationalsozialismus, andererseits trug er in der Nachkriegszeit viel zum Aufbau des deutschen Musikschullebens und der Musikerziehung bei. Anders als einige seiner Zeitgenossen und Mitstreiter der Jugendmusikbewegung, auch anders als prominente Personen wie Hans Baumann, stellte sich Wolfgang Stumme offen seiner Vergangenheit. Ihm war selbst an einer Aufarbeitung gelegen, wie in dem (eher kleinen) Teilnachlass Stummes dokumentiert ist. Besonders aufschlussreich sind darin die von ihm selbst zusammengestellten Dokumentationen zu den unterschiedlichen Abschnitten seines Lebens.

Aus Stummes kurzer Autobiographie (Wolfgang Stumme, Der eigene Lebensweg, AdJb N 247 Nr. 12) geht hervor, dass er durch seinen Vater Paul Stumme, einen Musiklehrer und Organisten, zwar früh Berührung mit der Musik hatte, aber auch an Astronomie und Geographie interessiert war und sich erst im Studium für die Musik entschied. Bereits in der Schulzeit hatte er mit 15 Jahren über die Turnerjugend die „Lebensformen der Jugendbewegung“ kennengelernt: „Wir Jungen sahen damals in der Gruppe die erste Verwirklichung eigener Freiheit außerhalb von Schule und Familie. Die prägende Kraft der Jugendbewegung als einer geistigen Welt für Leben und Beruf erkannte ich erst während des Studiums in Erfurt, als sich beides bei den Dozenten der Hochschule in Übereinstimmung befand und uns geistig-menschlich-fachlich stark beeinflußt hat“ (ebd., S. 2).

In Erfurt absolvierte er 1930-1932 an der Pädagogischen Akademie ein Lehrerstudium, wobei hier, wie erwähnt, der Dozentenkreis teilweise aus der Jugendbewegung kam. Nach einer kurzen Gasthörer-Episode in Halle/Saale bei Adolf Reichwein wechselte Stumme nach Berlin an die Akademie für Kirchen- und Schulmusik. Als Teilnehmer am Fortbildungslehrgang für Jugend- und Volksmusikpflege bei Fritz Jöde intensivierten sich seine Kontakte zur Jugendmusikbewegung; durch Vermittlung Jödes begann Stumme außerdem, an zwei Berliner Jugendmusikschulen elementaren musikalischen Grundunterricht zu geben. In diese Zeit fielen auch eine Begegnung mit Carl Orff sowie ein Kurs im Musikheim Frankfurt/Oder unter der Leitung von Georg Götsch. Bis dahin bezeichnet Stumme sich rückblickend als „unpolitisch“ (ebd., S. 3) und beschreibt die Machtergreifung im Januar 1933 zunächst als „Schock“ (ebd., S. 4). Eine Empfehlung Jödes, dass Jüngere in die Hitlerjugend gehen sollten, um die Ideen der Jugendmusikbewegung weiterzutragen, erwähnt er als einen Schlüsselmoment. An anderer Stelle (Vortrag „Jugendmusik 1933–1945“, AdJb A 228 Nr. 8416, S. 5-6) erinnert er sich an seinen Eindruck von den Zusammenkünften in der Reichsjugendführung sowie von der Gestalt des Führers als so „fesselnd“, dass er entschied, sich politisch zu engagieren.

Nach einer Mitarbeit im Schul- und Jugendfunk des Deutschlandsenders und Funksingstunden begann Stumme erst als Referent, dann als Leiter der Hauptabteilung Musik im Kulturamt der Reichsjugendführung. Es folgten weitere Funktionen wie stellvertretender Leiter der Abteilung Jugend- und Volksmusik in der Reichsmusikkammer und Leiter der Arbeitsgemeinschaft Musik der Adolf-Hitler-Schulen. 1936 begann er außerdem als Dozent am Lehrgang für Volks- und Jugendmusikleiter an der Staatl. Hochschule für Musikerziehung und Kirchenmusik; 1942-1944 übernahm er die Leitung des Lehrgangs. Sein Einfluss war tatsächlich fundamental: „Vor allem als Herausgeber der ‚Musikblätter‘ und der ‚Liederblätter der Hitler-Jugend‘ sorgte er für die massenhafte Verbreitung dezidiert nationalsozialistischen Liedguts, das als eines der wirksamsten Mittel politischer Indoktrination eine fatale Rolle in der Jugendpolitik des totalitären NS-Staates spielte“, so urteilt der Musikwissenschaftler Matthias Pasdzierny (Pasdzierny, S. 531).

An seinen publizierten Schriften wird deutlich, dass Stumme zunehmend scharfe nationalsozialistische Propaganda betrieben hat. So finden sich in seinem Aufsatz „Musikpolitik als Führungsaufgabe“ im Sammelband „Musik im Volk“ (1944) u.a. antisemitische Hetze in Verbindung mit Musik der Gegenwart sowie eine radikale Ablehnung von Jazzmusik, hier ein Auszug: „Die Ausschaltung des Juden (auch aus dem gesamten Kulturleben) war in verhältnismäßig kurzer Zeit erreicht – was die Personen und ihre Werke betrifft. Was noch zu tun übrigbleibt (und das ist wahrlich nicht immer der geringere Teil des Problems), ist die Ausmerzung auch der geistigen (das heißt ungeistigen) Einflüsse des Judentums, die in der Musik noch spürbar vorhanden sind und hier am wenigsten bisher erkannt oder beobachte wurden. Zwei Einfallstore für das Judentum haben bisher offen gestanden: Das eine ist das Gebiet des Jazz und des Tanzes überhaupt, und das andere ist die noch wirksame Schule jüdischer Tonsetzer der jüngsten Vergangenheit, nachweisbar in ihren Schülern und Anhängern“ (Wolfgang Stumme, Musikpolitik als Führungsaufgabe, in: Musik im Volk, hrsg. von Wolfgang Stumme, Berlin 1944, S. 11-12).

Stummes politische Einstellung bringt die Historikerin Karin Stoverock mit der Jugendmusikbewegung in Zusammenhang: „Seine Begeisterung für den Nationalsozialismus entsprang vor allem seiner völkischen Einstellung, die sich auf musikalischem Gebiet mit den musikerzieherischen Konzepten der Jugendmusikbewegung verbinden ließ. (Stoverock, S. 79). Der Historiker Michael Buddrus konstatiert für den nationalsozialistischen Musikfunktionär Stumme sogar ein Höchstmaß eines verhängnisvollen Einflusses: „Die perfidesten Ausprägungen nationalsozialistischer musikwissenschaftlicher Theorien und Anleitungen zu deren Umsetzung im Rahmen der HJ finden sich bei Wolfgang Stumme“ (Buddrus, S. 165), und beschreibt ihn weiter als einen „Schreibtischtäter, der die von ihm nicht unwesentlich geprägte Musikpolitik des Dritten Reiches symbiotisch mit der nationalsozialistischen Rassenlehre verband und daraus eine völkisch-rassistisch determinierte Musikauffassung begründete“ (Buddrus, S. 166).

Nach dem Krieg war Stumme mehrere Jahre in sowjetischer Kriegsgefangenschaft; mit einigen Mitgefangenen initiierte er kulturelle Aktivitäten im Gefangenenlager (siehe auch Stummes Dokumentation „Das Volk, das im Finstern wandelt“, AdJb N 247 Nr. 27). 1949 konnte er nach Deutschland zurückkehren und fand in Espelkamp/Lübbecke eine neue Heimat. Bei dem anschließenden Entnazifizierungsverfahren wurde er in Kategorie IV eingestuft, womit keine Berufseinschränkungen verbunden waren (siehe Pasdzierny, S. 530). Er konnte wieder als Musikpädagoge tätig sein und begann mit dem Aufbau der Jugendmusikschule Espelkamp/Mittwald bzw. dem Musikschulverband Lübbecker Land – die folgenden Jahre prägte er das Musikleben im Kreis Lübbecke. Unter anderem gründete er 1949 den Singkreis Espelkamp, die Chorgemeinschaft Lübbecke und ein Kammertrio. 1950 folgte ein Kammerorchester, mit dem er im gleichen Jahr die ersten Musiktage im Kreis Lübbecke gestaltete, die für die folgenden Jahre eine feste jährlich wiederkehrende Institution wurden (1951 galt ein Schwerpunkt Musik und Lyrik ehemaliger Kriegsgefangener des russischen Lagers, in dem auch Stumme gewesen war). Auch in den Schulen setzte er sich für Singtreffen und Schulungswochen ein. Hinzu kamen die Arbeit mit einem Kinder- und Jugendchor und ein jährliches Chorsingtreffen. 1953 wird die Jugendmusikschule im Kreis Lübbecke gegründet – mit dem Ziel einer Kreismusikschule mit mehreren Unterrichtsstätten.

Stumme begann eine Zusammenarbeit mit dem „Arbeitskreis für Jugendmusik“, der auch Mitträger der Musiktage im Kreise Lübbecke wurde. Außerdem zählte Stumme 1952 zu den Gründungsmitgliedern des Verbandes der Jugend- und Volksmusikschulen und engagierte sich im Verband deutscher Musikerzieher. 1964 wurde er schließlich Dozent für Musikerziehung an der Folkwang Hochschule in Essen. Er verfasste eigene Schriften und war als Mitherausgeber an mehreren Bänden zur Musikpädagogik für Musikschulen beteiligt.

In den 1960er Jahren kamen öffentliche Diskussionen über die nationalsozialistische Vergangenheit einzelner Musikpädagogen auf, insbesondere Akteure aus dem Umfeld der Jugendmusikbewegung wurden angegriffen. Auch Wolfgang Stumme wurde in einem Spiegel-Artikel im Jahr 1967 vorgeworfen, dass er trotz seiner Vergangenheit „heute an der Essener Folkwang Hochschule Musiklehrer“ ausbilde („Heizt ein“, in: Der Spiegel, 23.01.1967). Allerdings stand Stumme einer Aufarbeitung seiner Vergangenheit offen gegenüber, so äußerte er sich in der Reihe „Braune Universität“ 1968: „Ich bin mir bewußt, welche Mitverantwortung und Mitschuld ich zu tragen habe“, und verwies auf seine Wandlung mit den Worten „Die Bewältigung der Vergangenheit liegt nicht darin, sie für sich selbst durch Rechtfertigungsversuche vergessen zu machen oder den Abschnitt eines Irrtums aus dem eigenen Lebensweg wegzudenken, sie liegt allein in der ausschließlich dem Gewissen verpflichteten und nur dadurch vor sich selbst und – so hoffe ich – vor der Jugend glaubwürdigen Wandlung“(Braune Universität 6/1968, S. 109-110).

Stumme war es auch, der in seinen eigenen Kreisen versuchte, eine Aufarbeitung der NS-Zeit anzustoßen. Bereits seit den 1950er Jahren wollte er eine Dokumentation der Zeit 1933-1945 anregen, wie aus Protokollen und Korrespondenzen hervorgeht. So betonte er 1970 erneut: „So unangenehm für die ‚Betroffenen‘ die Situation sein mag, so sehr sollten sie der geschichtlichen Wahrheit und Klarheit wegen die Dokumentation bejahen“ (Stellungnahme einiger Mitglieder des AdJMb zur Dokumentation der Jugendmusikbewegung, 1970, AdJb A 228 Nr. 8002). Doch bei vielen seiner Kollegen stieß er damit auf Unverständnis; abgesehen von Ekkehart Pfannenstiel und wenigen anderen verschlossen sich seine Mitstreiter einer solchen Aufarbeitung. In seinen letzten Lebensjahren nahm daher Stumme das Projekt selbst in die Hand und stellte eine eigene Materialsammlung zur Dokumentation der Musikarbeit in der Hitlerjugend zusammen (siehe AdJb N 247 Nr. 3-12).

Amrei Flechsig

Bestandsgeschichte

Zugänge 2019.

Geschichte des Bestandsbildners

Wolfgang Stumme, Pseudonym Hans Helmut.
Lebensdaten: * 18.7.1910 in Züllichau, † 12.10.1994 in Essen.
Musikpädagoge, Komponist, Herausgeber.
Leiter der Abteilung Musik im Kulturamt der Reichsjugendführung (Hauptbannführer).
Mitgliedschaft im Freideutschen Kreis.

1928-1930 Studium Musikwissenschaft, Astronomie, Geographie an der Universität Berlin
1930-1932 Studium Päd. Akademie Erfurt, Abschlussprüfung für Lehramt an Volksschulen
1932 Besuch d. Staatl. Lehrgangs für Volks- und Jugendmusik in Berlin (Fritz Jöde); Lehrer an Berliner Volksschule und an Berliner Jugendmusikschulen Schmargendorf und Pankow
ab 1934 Musikreferent in der Reichsjugendführung
ab 1936 Hochschullehrer am Seminar für Volks- und Jugendmusikleiter, Staatl. Hochschule für Musikerziehung und Kirchenmusik in Berlin-Charlottenburg (ab 1942 Seminarleiter)
1939-1945 Kriegsdienst
1945-1949 sowjet. Kriegsgefangenschaft
ab 1949 Musiklehrer an Realschulen Rahden und Lübbecke
1955-1965 Realschullehrer in Lübbecke
1950-1964 jährl. Musiktage im Kreis Lübbecke
ab 1964 Dozent für Musikerziehung Folkwang-Hochschule Essen (ab 1965 Leiter Fortbildungsseminar)
ab 1966 Leiter Fachabteilung Musik Staatl. Päd. Fachinstitut Essen-Dortmund
1972-1981 Sprecher d. Päd. Beirats d. Verbandes dt. Musikschulen

Literatur

Michael Buddrus, Totale Erziehung für den totalen Krieg: Hitlerjugend und nationalsozialistische Jugendpolitik, München: Saur, 2003, Teil 1

Hochschuldozent Wolfgang Stumme, Folkwang Hochschule Essen - Biografisches, Auszüge aus Veröffentlichung vor 1945, persönliche Stellungnahme, in: Braune Universität - Deutsche Hochschullehrer gestern und heute, Dokumentation mit Stellungnahmen, hrsg. von Rolf Seeliger unter Mitarbeit von Dieter Schoner und Hellmut Haasis, Heft 6/1968

Mia Holz, Musikschulen und Jugendmusikbewegung: Die Institutionalisierung des öffentlichen Musikschulwesens von den 1920ern bis in die 1960er-Jahre, Münster: Waxmann, 2019

Matthias Pasdzierny, Wiederaufnahme? Rückkehr aus dem Exil und das westdeutsche Musikleben nach 1945, München: edition text & kritik, 2014

Fred K. Prieberg: Handbuch Deutsche Musiker 1933-1945, 2004, S. 7095-7108

Jürgen Reulecke, Seelenverformung durch Musikpolitik: über den Nachlass von Wolfgang Stumme, Vortrag (unveröffentlicht), gehalten auf der Jugendburg Ludwigstein 2016 (als Audiomitschnitt zu finden unter https://www.burgludwigstein.de/erleben/jugendbewegung/musizieren-marschieren-sterben)

Jürgen Reulecke, „Unser Liederbuch“ - oder: Warum machen Leute Liederbücher? Mit einem Exkurs zu Wolfgang Stumme, Hauptreferatsleiter Musik der HJ bis 1944, in: Der Ring wird geschlossen, der Abendwind weht. Festschrift für Helmut (helm) König hrsg. von Roland Eckert, Joachim-Felix Leonhard, Jürgen Reulecke, Klaus Wettig, Berlin: vbb, 2010

Karin Stoverock, Musik in der Hitlerjugend: Organisation, Entwicklung, Kontexte, Uelvesbüll: Der Andere Verlag, 2013, Band 1

Wolfgang Stumme, Vortrag „Jugendmusik 1933–1945“, gehalten auf Einladung von Fritz Jöde im Archiv der Jugendmusikbewegung Hamburg am 16.11.1963 (AdJb A 228 Nr. 8416 und Nr. 3227).

Wolfgang Stumme, Der eigene Lebensweg, in: Musik und Musikerziehung in der Hitlerjugend, Dokumentation der Jahre 1933-1945, erstellt von Wolfgang Stumme, Band X: Autobiographien (Kap. 24), 1989, S. 1-5

Von Stumme selbst zusammengestellte Dokumentationen:
Wolfgang Stumme, Musik und Musikerziehung in Espelkamp, Lübbecke und im Altkreis Lübbecke, Dokumentation von Wolfgang Stumme, 1949-1964 (Band 1-4), 1980
Wolfgang Stumme, „Weit verstreut und wiederversammelt“, aus der Arbeit der Jahre 1950-80 (in 2 Bänden), 1981
Wolfgang Stumme, Musik und Musikerziehung in der Hitlerjugend, Dokumentation der Jahre 1933-1945 (Band 1-10), 1985
Wolfgang Stumme, „Das Volk, das im Finstern wandelt“: Dokumentation über Musik und Dichtung im russ. Kriegsgefangenenlager 7/437 (1945-1949), 1985

Findmittel

Online-Datenbank ArcInSys

Weitere Angaben (Bestand)

Umfang

8 Archivkartons