HStAM Bestand 180 Arolsen > Nationalsozialistische Erbgesundheitspolitik ("Sippenakten")

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Beschreibung: Gliederung (Klassifikation)

Identifikation (Gliederung)

Titel 

Nationalsozialistische Erbgesundheitspolitik ("Sippenakten")

Laufzeit 

1943/35-ca. 1945 (-1948)

Aufsatz 

1. Behördengeschichte
Nach der Machtübernahme der NSDAP beschloss der Reichstag am 14. Juli das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Das Gesetz definierte, welche Personen als erbkrank zu betrachten waren und wie mit ihnen verfahren werden sollte. Im Detail bestimmte das Gesetz: „(1) Wer erbkrank ist, kann durch chirurgischen Eingriff unfruchtbar gemacht (sterilisiert) werden, wenn nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, daß seine Nachkommen an schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden werden.“ Dabei waren im Sinne des Gesetzes Personen mit „1. angeborenem Schwachsinn, 2. Schizophrenie, 3. zirkulärem (manisch-depressivem) Irresein, 4. erblicher Fallsucht, 5. erblichem Veitstanz (huntingtonsche Chorea), 6. erblicher Blindheit, 7. erblicher Taubheit, 8. schwerer erblicher Mißbildung“ Erbkranke. Zur Zentralisierung gesundheitspolitischer Probleme (so auch Sterilisationsfragen) wurden bereits mit Inkrafttreten des Gesetzes vom 14. Juli 1933 Erbgesundheitsgerichte ins Leben gerufen. Die Erbgesundheitsgerichte, welche Zwangssterilisationen rechtlich anordneten, wurden den Amtsgerichten in den Städten, die gleichzeitig Sitz eines Landgerichts waren, angeschlossen und die für Streitfälle zuständigen Erbgesundheitsobergerichte als „letzte Instanz“ den Oberlandesgerichten. Quantitativ bedeutete dies die Errichtung von 220 Erbgesundheitsgerichten und 30 Erbgesundheitsobergerichten im Deutschen Reich bis 1935.
Darüber hinaus wurden mit dem „Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens vom 3. Juli 1934“ Gesundheitsämter in den Kreisverwaltungen errichtet, welche die ständige Anwesenheit eines Amtsarztes zur Folge hatten. Bis 1938 wurden daher über 745 Gesundheitsämter eingerichtet. Diese beschäftigten ca. 1500 beamtete Ärzte und ein erheblich erweitertes medizinisches Personal. Insgesamt waren in diesem Kontext damit neben den Erbgesundheitsgerichten vor allem die Gesundheitsämter als biopolitische Institutionen aufgebaut.
Das Gesetz verpflichtete die Kreise zur Errichtung eines Gesundheitsamts bis zum 01. April 1935. Das Staatliche Gesundheitsamt der Kreise der Twiste und Wolfhagen wurde so im Zuge dieser Bestimmungen in Arolsen gegründet. Hier war seit Anfang Mai 1934 der Medizinalrat und Kreisarzt Dr. Thelemann tätig, welcher dann zum 01. April 1935 als Amtsarzt eingesetzt wurde – eine Vorgehensweise, welche den Bestimmungen des Gesetzes entsprach und von einigen neu errichteten Gesundheitsämtern in ähnlicher Weise gewählt wurde. Am 1.2.1942 kam das Gesundheitsamt dann – inklusive seines Personals – nach Korbach, um nach dem Zusammenschluss der Kreise der Eder, des Eisenbergs und der Twiste zum Kreis Waldeck ein größeres Gebiet bearbeiten zu können.

2. Entstehung und Übernahme der Akten
Die vorliegenden Akten wurden am 07.05.2007 vom Fachdienst Gesundheit der Kreisverwaltung Korbach als Zugang 2007/37 übernommen und dem Bestand 180 Arolsen beigefügt. An diese Behörde sind sie zuvor über das Staatliche Gesundheitsamt des Kreises Waldeck in Korbach gelangt, welches das vom 01.04.1935 bis 1942 zuständige Staatliche Gesundheitsamt der Kreise der Twiste und Wolfhagen ab 1942 bis ca. 1947/48 in der Zuständigkeit ablöste.
Die ersten der übernommenen Akten beginnen im Jahre 1934/35. Während die meisten nur eine Laufzeit von wenigen Jahren haben, weisen manche Akten auch längere Laufzeiten auf. Entweder wurden Inhalte zu einer verwandten Person teilweise noch bis zu 10 Jahren nach Aktenbeginn zu dem:der Verwandten, der:die bereits in der Akte erfasst war, hinzugelegt, oder betroffene Personen und deren Angehörige klagten gegen die Entscheidungen der Behörden. Dies war besonders im Fall von Beschlüssen zur Unfruchtbarmachung häufig gegeben. Ab 1941 werden keine Akten mehr neu angelegt, sondern nur noch Schriftstücke zu Verwandten hinzugefügt (teils auch über die NS-Zeit hinaus bis ins Jahr 1948).
Die Gründe der Aktenanlage veränderten sich kaum, die meisten Bögen wurden zur Prüfung der Eheeignung, für Ehestandsdarlehen und Kinderbeihilfe und für Neubauern ausgefüllt. Die Ehestandsdarlehensanträge für SS-Angehörige, die sich vor 1940 noch häufen, wurden ab 1940 als Folge des Krieges nicht länger von den lokalen Gesundheitsämtern bearbeitet.
Über die Laufzeit ergeben sich für den Bestand interessante Veränderungen. Besonders in den frühen Akten finden sich zahlreiche Fälle von Unfruchtbarmachungen. Die erforderlichen Sippentafeln (ab 1937) wurden oftmals erst nach der erfolgten Zwangsterilisation (oft 1935) angefertigt. Waren Informationen über Verwandte bekannt, so wurden weitere zu prüfende Personen anhand dieser Informationen bewertet. Die Durchführung der Unfruchtbarmachung lässt sich besonders an den ersten Akten des Zugangs 2007/37 nachvollziehen. Bei Unfruchtbarmachungen wurde nicht selten Beschwerde erhoben, der jedoch meist nicht stattgegeben wurde. Die Zwangssterilisation wurde oft nur wenige Wochen nach dem Beschluss des Erbgesundheitsgerichtes durchgeführt, sodass für die Betroffenen kaum Zeit war, gegen den Beschluss vorzugehen. Dabei finden sich unter den Zwangssterilisierten auch häufig Kinder, die ihre Sippentafeln teilweise selbst ausfüllen mussten und schnellst möglich zum Vollzug der Maßnahme in Einrichtungen eingeliefert wurden.
Demgegenüber finden sich unter den Akten auch zahlreiche SS-Mitglieder der lokalen SS-Kaserne in Arolsen, die keinerlei Probleme hatten, ihre Eheeignung zu erhalten.

3. Inhalt der Archivalien
Der Umfang der Akten wird vom Kontext der Erfassung und den Ergebnissen der Untersuchungen beeinflusst. Meistens finden sich mindestens folgende Schriftstücke:
- Sippentafel, aufgestellt durch den:die staatliche Gesundheits- oder Volkspfleger:in oder die Prüflinge selbst; bei SS-Mitgliedern durch das Rasse- und Siedlungshauptamt SS (Sippenamt, Abt. Bevölkerungspolitik und Erbgesundheitspflege)
- Sippenfragebogen, meistens ausgefüllt durch die Prüflinge selbst
- in älteren Akten: Familiennachweis
Je nach Zweck der Untersuchung finden sich häufig auch folgende Schriftstücke:
- Personalbogen für die Bewerbung um Ehestandsdarlehen
- Prüfungsbogen für Eheeignung
- Personalbogen für Bewerber um Kinderbeihilfe an kinderreiche Familien
- Antrag auf Ausstellung einer Eheunbedenklichkeitsbescheinigung
- Eheunbedenklichkeitsbescheinigung
- Bescheinigung des zuständigen Bürgermeisters / der zuständigen Ortspolizeibehörde zur Erbgesundheit
- Bescheinigung der Ablehnung auf Ausstellung (z.B. einer Eheunbedenklichkeitsbescheinigung)
- Bitte um Rücksendung der Unterlagen zum Antrag auf Ehestandsdarlehen eines SS-Angehörigen nach Kriegsbeginn
- Anzeige zur Untersuchung
- Aufforderung zur Untersuchung wegen Militärdienst
- Untersuchungsbogen
- Untersuchungsbogen für Neubauern
- Untersuchungsbogen für Bewerber um Kinderbeihilfe an kinderreiche Familien
- (SS-)ärztliches Gutachten, ärztliche Zeugnis
- Antrag auf Einbürgerung
- Zeugnis über die amtsärztliche Untersuchung für die Gewährung von Ausbildungsbeihilfen
Im Falle eines erbgesundheitlich relevanten Verdachtes kommt oftmals folgendes Schriftgut hinzu:
- Intelligenzprüfbogen
- Beschluss zur Unfruchtbarmachung
- Beschluss zur Ablehnung der Unfruchtbarmachung
- Beschwerde gegen Beschluss der Unfruchtbarmachung
- Zurückweisung der Beschwerde gegen Beschluss zur Unfruchtbarmachung
- Beschwerde gegen Beschluss zur Ablehnung der Unfruchtbarmachung
- Zurückweisung der Beschwerde gegen Beschluss zur Ablehnung der Unfruchtbarmachung
- Beschluss zur Überweisung in Nervenklinik
- Merkblatt zur Unfruchtbarmachung und Sterilisation

4. Erschließung der Akten
Die Unterlagen wurden im Frühjahr 2023 von Praktikant:innen erschlossen.

5. Schutzfristen
Da die verzeichneten Akten sensible Daten über Personen enthalten, wurde in jedem Fall eine Schutzfristprüfung vorgenommen. Besonders in den Sippentafeln und -fragebögen werden oftmals Kinder aufgeführt, die in den 1930er Jahren geboren wurden und noch leben könnten. In diesen Fällen wurden Schutzfristen von 100 Jahre nach Geburt vergeben. Verzeichnungsdaten zu ggf. noch lebenden Personen (geboren nach 1922) wurden zudem vor Veröffentlichung geschützt und sind nur intern recherchierbar. (Stand: April 2023)

Informationen / Notizen

Zusatzinformationen 

Literatur:
- Jana Buchert u.a.: Die neu erschlossenen Sippenakten im Bestand 180 Landratsamt Arolsen des Staatsarchivs Marburg, in: archivnachrichten aus hessen 23/1, 2023, S. 42-44