AdJb Bestand N 101

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Beschreibung: Bestand

Identifikation (kurz)

Titel 

Sydow, Kurt (1908-1981)

Bestandsdaten

Aufsatz 

Kurt Sydow begann seine berufliche Laufbahn zunächst als Konzertmusiker: Er nahm 1925 in Berlin ein Violinstudium auf und studierte ab 1927 in der Meisterklasse des renommierten Geigers Josef Wolfsthal. Neben dieser klassischen Musikausbildung wurde jedoch schon während der Studienzeit sein Interesse für die Jugendmusikbewegung geweckt: In einem ausführlichen Interview mit Rudolf Weber erinnert sich Sydow an die erste Singwoche, an der er teilgenommen hat, und zwar unter der Leitung von Helmut Mönkemeyer in Hildesheim. Während des Studiums in Berlin lernte Sydow auch Georg Götsch kennen, der eine Übung "Gegenwartsfragen der Musikerziehung" durchführte und dabei das pentatonische Liedgut in Verbindung mit englischen Tanzmelodien vorstellte. Ebenso erlebte er Fritz Jöde in seinen offenen Singstunden an der Berliner Musikhochschule: "Es ist mir ein unvergeßlicher Eindruck, wie Jöde ein Lied einsang." (in: Interview von Rudolf Weber mit Kurt Sydow aus dem Jahr 1977 [N 101 Nr. 1])

Rückblickend stellte er einen Vergleich zwischen diesen beiden Persönlichkeiten der Jugendmusikbewegung her: "Bei Götsch ist immer spürbar gewesen, daß auf seinem Weg die Begegnung mit der englischen Tanzgruppe von Rolf Gardiner liegt und daß dadurch ein tänzerischer Einfluß […] sich auswirkte. Diese Tanzkultur, die in Deutschland nicht überliefert wurde, weist sehr starke Parallelen zu linearer Musik auf. Das scheint mir ein bestimmendes Moment für die Lehrintention von Götsch und auch für den ihn umgebenden Kreis an Mitarbeitern. […] Während Götsch den kleinen Kreis bevorzugte und dort auf zuchtvolles Verhalten ein Hauptaugenmerk richtete, war Jöde sehr viel vitaler und hatte eine besondere Möglichkeit, die große Menge anzusprechen. Er war auch vielseitiger im Sinne einer volkstümlichen Verbreitung von Musik." Was Sydow vor allem faszinierte, war die Art des Umgangs mit der Musik: "Nun, es ist meiner Meinung nach ein Zeichen der Jugendmusikbewegung – oder auch Singbewegung genannt – daß es nie nur darum ging, etwa ein Musikstück zu lernen, um es dann lediglich zu kennen, sondern daß in dem Vorgang des Beibringens ein Werden ist, daß dieser Vorgang selbst ein Ziel ist." (in: s.o., S. 15)

Zu einem weiteren wichtigen Kontakt wurde Herbert Just, der Leiter der Arbeitsstelle der Musikantengilde in Berlin, den Sydow auf einem Musikfest des Instrumentenbauers Arnold Dolmetsch in England kennenlernte. Dieser legte Sydow eine Arbeit in der reformpädagogischen Schule am Meer auf Juist nahe, wo er dann tatsächlich von 1929 bis 1932 als Lehrer tätig war. Nachhaltig geprägt wurde Sydow vom dortigen Schulleiter Martin Luserke, vor allem von dessen Shakespeare-Forschung und Laienspiel-Theorie, die er in eigenen Laienspielen weiter fortgeführt hat. In dieser Zeit begann er auch damit, Musik zum Laienspiel zu gestalten. Später, in seinen letzten Lebensjahren, setzte sich Sydow mit Leben und Werk Luserkes in mehreren Publikationen auseinander. Ein wichtiger Kollege und Freund in der Schule am Meer wurde für ihn außerdem der Musiklehrer Eduard Zuckmayer, der 1936 nach einem Berufsverbot durch die Nationalsozialisten in die Türkei emigrierte. Mit einigen ehemaligen Kolleginnen und Kollegen der Schule am Meer blieb Sydow zeitlebens in Kontakt, u. a. mit Helene Aeschlimann [siehe Korrespondenz in N 101]. Auch mit Eduard Zuckmayer blieb er in Briefkontakt und besuchte ihn im Jahr 1966 in der Türkei; außerdem half er ihm, türkischen Studenten einen Gastaufenthalt in Deutschland zu vermitteln [siehe N 101 Nr. 27].

Auch wenn in der Schule am Meer Instrumentalmusik und klassische Musik ein stärkeres Gewicht als das Volkslied hatten, begann Sydow sich mit den pädagogischen Möglichkeiten des Lieds und des Singens auseinanderzusetzen. In einer spielerischen Interpretation und der Improvisation sah er zentrale Methoden der Musikvermittlung. Nach dem Verlassen der Schule am Meer 1932 fand er schließlich im Musikheim Frankfurt (Oder) unter der Leitung von Georg Götsch eine neue Perspektive und war dort bis 1939 tätig. So wurde im Musikheim Sydows Interesse an der Vokalmusik verstärkt: "Wenn in der Schule am Meer die Vielschichtigkeit der Musik vorherrschte – es wurde dort beispielsweise Instrumentalmusik von einfacher Spielmusik bis hin zur anspruchsvollen großen Instrumentalmusik aufgeführt, und ich selbst habe dort mit Zuckmayer zusammen viel Geigenliteratur gespielt – so herrschte im Musikheim, in das ich 1932 kam, die Vokalmusik vor. Es kamen jetzt Jahre, in denen das Singen von Schützmotetten und Bachmotetten und verschiedenen Werken der Niederländer zum Mittelpunkt des Musizierens wurde. Das prägte sich so stark aus, daß mich selbst Instrumentalmusik nicht mehr interessierte." (in: Interview, s.o., S. 25-26) Sydow begann auch selbst als Singleiter Kurse und Singwochen zu leiten. Sydows Laienspiel-Erfahrung legte im Musikheim außerdem den Grundstein für eine intensive Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten des Laienspiels. Insbesondere die musikalische Gestaltung erhielt für ihn neues Gewicht: "Die Musik gehörte zu den Aufzügen, Abzügen, zu Liedern, zu kleinen Musikszenen und zu den Stellen, die zu unterstreichen waren. Es gibt von Luserke das Wort 'Wo das Unsagbare eintritt, an dieser Stelle muß die Musik einsetzen'."(in: s.o., Teil II, S. 5)

Die nationalsozialistische Ära nahm Sydow nach eigenen Angaben mit kritischen Augen wahr, so beschreibt er rückblickend die Teilhabe mancher Akteure der Jugendmusikbewegung als einen Fehler aus Naivität: "Zweifellos gab es ganz andere Einstellungen. Ich höre noch das Wort eines Musikers aus der Jugendmusikbewegung, der behauptet hatte, das sei nun unsere große Chance, die wir nutzen müssten. Dahinter steht die Auffassung von der Musikalisierung des ganzen Volkes, einer musikalischen Grundlegung im Volkstum, und daß im Zusammenhang mit den propagandistischen Unternehmungen der nationalsozialistischen Herrschaft derartigen Bestrebungen der Weg bereitet sei. Dieser Irrtum, der sich dahinter zeigt, geht zweifellos auch darauf zurück, daß die Parteiführer in ihrer Terminologie solche Vermutungen unterstützten, daß sie die Begriffe der Jugendmusikbewegung in ihrem Vokabular brauchten. Es sind das Worte wie Volkstum, von Treu und Glauben, von alten überlieferten Werten… Man konnte nicht sehen und auch nicht ahnen, welche Schrecknisse noch kamen. Hätte man mit Sorgfalt jenes Buch von Hitler 'Mein Kampf' gelesen, dann hätte man wohl etwas mehr aus diesem Buch erfahren können. Aber auch das nahm man in den Kreisen, in denen ich verkehrte, überhaupt nicht ernst. Man gab sich nicht die Mühe, so etwas wirklich zu lesen." (in: s.o., Teil II, S. 13) Für sich selbst beschreibt er die Ereignisse der Reichskristallnacht als einen Schrecken, der ihm die Augen geöffnet habe. Gleichzeitig bezeichnet er es auch als einen großen Fehler, dass er pauschal mit dem Kollegium des Musikheims 1936 in die Partei eingetreten war.

1939 wechselte Sydow als Musiklehrer an die Oberschule und das Gymnasium Konradinum in Danzig, bis er kurz darauf in den Kriegsdienst eingezogen wurde. 1944 konnte er durch die Vermittlung von Herbert Just in die Wehrbetreuung der Marine wechseln, wo er sich für die musische Bildung einsetzte. Dort lernte er u.a. Wilhelm Ehmann und Felix Oberborbeck, aber auch den Komponisten Wolfgang Fortner kennen. Nach dem Krieg siedelte er nach zwei Jahren als Konzertmeister im Theater in Wismar mit seiner Familie nach Westdeutschland um. Eine kurze Zeit als Gast am Jugendhof Vlotho bei Herbert Just gab ihm neue Inspiration und auch wieder einen neuen Einstieg in die Laienspiel-Arbeit. An das Laienspiel konnte er schließlich ab 1948 bei seiner neuen Tätigkeit als Dozent für Musikerziehung und Darstellendes Spiel an der Pädagogischen Hochschule in Göttingen wieder anknüpfen: "Als ich an der Pädagogischen Hochschule in Göttingen war, habe ich dann eigentlich wieder begonnen, Laienspiel zu betreiben. Wieder in dreifacher Form: Wir spielten gedruckte Stücke, wir spielten Stücke, die in der Gruppe zustande kamen, und wir spielten Shakespeare-Stücke." (in: s.o., Teil II, S. 8)

1955 wurde Sydow auf eine Professur an der Pädagogischen Hochschule Osnabrück (Adolf-Reichwein-Hochschule) berufen. Im Fokus seiner Lehrtätigkeit im Bereich Musikpädagogik standen bis zu seiner Emeritierung 1973 Themen wie Musik und Spiel, Musik im Laienspiel, Musikvermittlung, Volksliedkunde und Musikhören. In seinen Nachlassunterlagen aus der Hochschultätigkeit finden sich zahlreiche Hinweise auf Themen seiner Studierenden zu Prüfungen und Lehrproben; Sydow betreute auch die Fachpraktika seiner Studierenden an den Schulen. Außerdem belebte er das Musikleben an der Hochschule mit der Leitung des Collegium musicum. Von 1962 bis 1965 übernahm Sydow das Rektorenamt der PH Osnabrück. Seiner Korrespondenz ist zu entnehmen, dass er ein sehr offenes und anteilnehmendes Verhältnis zu den Studierenden pflegte, da einige mit ihm auch nach dem Studium noch in herzlichem Kontakt standen – u.a. berichteten sie ihm von ihrem beruflichen Werdegang oder fragten ihn sogar um Rat in beruflichen Entscheidungen.

Neben dieser musikpädagogischen Tätigkeit war ein weiterer Arbeitsschwerpunkt Sydows die musikalische Arbeit für das Puppenspiel: Er arbeitete seit Beginn der sechziger Jahre mit den Hohnsteiner Puppenspielen zusammen und pflegte eine lebenslange Freundschaft mit dem Leiter Friedrich Arndt. Gemeinsam mit Arndt gab Sydow Lehrgänge zum Thema Musik und Puppenspiel, außerdem schrieb er selbst Musik zum Spiel, u.a. für die Fernsehreihe "Liederraten mit Kasper und René", die 1966 im WDR Fernsehen gesendet wurde. Zu einem großen Erfolg wurde die gemeinsam erarbeitete abendfüllende Pantomime "Der klingende Teppich". Auch für das Stück "Die Schildbürger" verfasste Sydow erneut die Musik.

Einzelne Notenausgaben in seinem Nachlass geben Einblick in Sydows kompositorische Tätigkeit. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf Gebrauchsmusik, wie vor allem der genannten Musik zu Laienspielen und zu Puppenspielen. Auch zu dem Film Lotte Reinigers „Das gestohlene Herz“ schrieb er im Auftrag des WDR 1968 eine neue Musik: "Ursprünglich existierte eine Musik zu dem Film, die den verschiedenen Szenen des Filmes Volkslieder zuordnete. Wenn beispielsweise der Mond aufging, erklang 'Der Mond ist aufgegangen' - ein typisches Beispiel für dieses Doppelsagen. Von meiner Luserke-Auffassung her habe ich es also vermieden, das schon im Bild Gesagte durch Musik noch einmal zu sagen. Ich habe mit dieser Musik nicht die Zustimmung des Verfassers dieses Films, nämlich von Herbert Just, gefunden." (in: s.o., S. Teil II, S. 6)

Neben einer regen Vortrags- und Publikationstätigkeit als Wissenschaftler und Musikpädagoge war Sydow auch mehrfach als Herausgeber aktiv: So gab er mehrere Tagungsberichte heraus, wie "Musik in Volksschule und Lehrerbildung" (1961), "Sprache und Musik" (1966) oder "Musikhören und Werkbetrachtung in der Schule" (1970). Außerdem war er beteiligt an dem umfangreichen Projekt der Dokumentation des Archivs der Jugendmusikbewegung "Die Deutsche Jugendmusikbewegung in Dokumenten ihrer Zeit von den Anfängen bis 1933", die 1980 erschienen ist, ein Jahr vor Sydows Tod. Er engagierte sich in zahlreichen Vereinen und Gesellschaften, dokumentiert sind u.a. seine Verbindungen zum freideutschen Kreis und zu den Freunden des Musikheims/ der Musischen Gesellschaft, aber auch zum Verband Deutscher Schulmusiker und zum Orff-Institut. In seiner langjährigen Heimatstadt Osnabrück nahm Sydow aktiv am Kulturleben teil, war u.a. in Kontakt zum Osnabrücker Symphonieorchester, hielt regelmäßig Einführungsvorträge für Konzertbesucher und war an der Programmgestaltung der Osnabrücker Musiktage beteiligt.

(Amrei Flechsig)

Geschichte des Bestandsbildners 

Musikpädagoge, Hochschullehrer, Musikwissenschaftler, Komponist, * 6. Juni 1908 in Stettin; † 7. Juni 1981 in Osnabrück

1925-1929 Musikstudium in Berlin
1929-1932 Musikerzieher reformpädagogische Schule am Meer auf der Nordseeinsel Juist
1932-1939 Musikheim Frankfurt (Oder)
1939 Musiklehrer Conradinum in Danzig-Langfuhr
1945-1947 Konzertmeister am Stadttheater Weimar
1948 Dozent für Musik und Musikerziehung Päd. Hochschule Bederkesa
1948-1955 Dozent für Musikerziehung und Darstellendes Spiel, Päd. Hochschule Göttingen
1955-1973 Professur Adolf-Reichwein-Hochschule in Osnabrück (1962-1965 Rektor der Hochschule)

Literatur 

Interview von Rudolf Weber mit Kurt Sydow aus dem Jahr 1977, Typoskript mit handschriftlichen Eintragungen und Korrekture [Quelle N 101 Nr. 1]

Rudolf Weber: Interview mit Kurt Sydow, Zeitschrift für Musikpädagogik, Heft 20, November 1982 (das Interview war 1977 geführt worden und ist in gekürzter Fassung erschienen)

Walter Heise (Hrsg.): Kurt Sydow (1908–1981). Musikpädagogische Beiträge aus drei Jahrzehnten. Epos-Music, Osnabrück 1993 (auch online unter: https://www.epos.uni-osnabrueck.de/books/s/sydk_93/pages/index.htm)

Findmittel 

Online-Datenbank ArcInSys

Weitere Angaben (Bestand)

Umfang 

25 Archivkartons, 208 Verzeichnungseinheiten